Hot Seat: Dr. Christian Patermann

Datum: 05 Okt, 2023

Sehr geehrter Herr Dr. Patermann, Ihre einflussreiche Rolle in der Entwicklung der Bioökonomie in Europa und Deutschland ist unbestritten, und das schon lange bevor dieser Begriff weit verbreitet war. Sie haben den Wandel von einer Randnotiz zu einem neuen Wirtschaftsmodell hautnah miterlebt. Wenn Sie auf die Entwicklung der Bioökonomie zurückblicken, wie würden Sie den aktuellen Stand bewerten? Welche Meilensteine sehen Sie erreicht, und wo sehen Sie noch Raum für Verbesserungen?

Ich bin sehr dankbar, dass ich die Entwicklung der Bioökonomie seit ihrer Anfangszeit in den Jahren 2004 und 2005 bis zum heutigen Tage nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit aktiv beobachten darf.

Ein entscheidender Meilenstein in dieser Entwicklung war das Jahr 2012, als zuerst in Europa und kurz darauf in den USA und in Russland eigene Strategien für die Bioökonomie verabschiedet wurden. Damit wurde das Konzept der Bioökonomie von einer reinen Forschungs- und Entwicklungsinitiative zu einem allgemeingültigen Wirtschaftsmodell erhoben.

Ein weiterer Höhepunkt ereignete sich 2015 in Berlin, als der erste globale Bioökonomie-Gipfel mit beinahe 1000 Teilnehmern aus der ganzen Welt das globale Interesse und die Aufmerksamkeit für dieses scheinbar neue, aber doch altbewährte Wirtschaftsmodell deutlich machte.

Einen dritten Meilenstein sehe ich in den letzten 20 Monaten, die von einer enormen und bisher nicht gekannten Dynamik der Bioökonomieentwicklung geprägt sind – trotz der Pandemie!

In diesem Zeitraum sind die USA, China, Indien und kürzlich auch Brasilien – allesamt Giganten im Bereich der Biomasse – auf die weltweite Bühne getreten und haben entweder erstmals oder erneut eigene Strategien und Pläne für die Entwicklung ihrer nationalen Bioökonomien vorgelegt, die allesamt von erheblichen Budgets unterstütz werden.

So möchte Präsident Modi Indien zu einen Bio-Manufacturing Hub entwickeln, während Präsident Lula da Silva ein brasilianisches Staatssekretariat für Bioökonomie gründet und die COP 30 in Belém veranstalten wird, dem einzigen brasilianischen Bundesstaat mit einer Bioökonomie-Strategie. In den USA wird die Executive Order on Advancing Biotechnology and Biomanufacturing Innovation for a Sustainable, Safe, and Secure American Bioeconomy von einem Bioökonomiegipfel im Weißen Haus begleitet. Das ist eine bisher unbekannte internationale Dynamik.

In Ihrer Aufzählung wird Europa schmerzlich vermisst.

An dieser Stelle muss man differenzieren. Europa hat in Bezug auf die Umsetzung der Bioökonomie durchaus beeindruckende Fortschritte erzielt. Kein anderer Kontinent plant, baut oder betreibt so viele Bioraffinerien wie Europa. Zudem ist Europa die Heimat großer globaler Initiativen wie dem Bioökonomiegipfel und dem World Circular Economy Forum.

Viele wegweisende Ideen stammen aus Europa, jedoch nehmen wir nicht in vollem Maße an der jüngsten Dynamik teil. Dies zeigt sich beispielsweise in Bereichen wie der Entwicklung von Biopolymeren, nachhaltigem Flugbenzin (SAF) oder der Produktion alternativer Proteine. Hier haben andere Weltregionen eine führende Rolle übernommen.

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass Europa wachsam bleibt und sicherstellt, dass wir in Bezug auf den gesellschaftlichen Stellenwert der Bioökonomie nicht ins Hintertreffen geraten.

In diesem Zusammenhang sehe ich mehrere Herausforderungen. Obwohl die Bioökonomie die werteorientierteste Form des Wirtschaftens ist, ist sie gleichzeitig auch die komplexeste, da sie stark auf naturwissenschaftlichen Prinzipien basiert. Dies macht ihre Verbreitung, Akzeptanz und Umsetzung nicht immer einfach. In Europa neigen wir zusätzlich dazu, uns mehr auf die Herausforderungen und Grenzen zu konzentrieren und weniger auf die Potenziale der Bioökonomie. Hier besteht Verbesserungsbedarf, um diese Haltung zu überwinden.

Ein weiteres Defizit sehe ich in der Frage der Finanzierung.         
Im Wettbewerb um Innovationen und neue Technologien genießen Lebenswissenschaften und Biotechnologie in Europa leider nicht die Priorität, die sie verdienen. Wir hören viel über Themen wie künstliche Intelligenz, Digitalisierung, manchmal Gesundheit und Energie, wenn es uns schlecht geht. Die Biotechnologie ist jedoch in weiten Teilen Europas kaum präsent. Dies steht im Gegensatz zu anderen Teilen der Welt, in denen die Bedeutung der Biotechnologie zunehmend erkannt wird.

In Europa besteht daher ein erheblicher Nachholbedarf in Bezug auf die öffentliche Meinung, die öffentliche Diskussion und die Förderung von Innovationen für die Zukunft.

Sie sind Teil des Beirats des Interreg Alpine Space Projekts INNOBIOVC, an dem der Chemie-Cluster Bayern seit April 2023 beteiligt ist. Das Projekt zielt auf die Förderung grenzübergreifender Innovation durch die Angleichung bestehender Förderprogramme und die Identifikation neue Wertschöpfungsketten. Hilft es dadurch die oben genannten Defizite zu adressieren?

Das Projekt InnoBioVC ist aus mehreren Gründen interessant.   
Erstens handelt es sich um ein grenzüberschreitendes Projekt mit einer klaren regionalen Ausrichtung. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da die Umsetzung der Bioökonomie auf regionaler Ebene erfolgen muss, um darüber hinaus erfolgreich zu sein.

Zweitens steht für mich die Betonung von Innovation im Mittelpunkt dieses Projekts. Dies betrifft nicht nur den Inhalt, sondern auch die begleitenden Aspekte, wie der Nutzung von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und neuen Algorithmen.

An dritter Stelle steht die zentrale Bedeutung von Wertschöpfungsketten. Wertschöpfung ist untrennbar mit der Bioökonomie verbunden und der Mehrwert, der Added Value stellt den eigentlichen Inhalt der Bioökonomie dar.

Ein anschauliches Beispiel für Added Value in der Bioökonomie ist die Umwandlung von Apfelsaftabfällen, die normalerweise verbrannt werden, in hochwertige Aminosäuren für Augentropfen. Hier wird aus Abfall ein hochpreisiges Produkt geschaffen. Wie uns Algorithmen helfen können, solche neuen Wertschöpfungsketten zu identifizieren, ist für mich hochinteressant.

Darüber hinaus haben uns die vergangenen Jahre mit Pandemie und Ukraine-Krise einen weiteren kritischen Aspekt von Wertschöpfungsketten nahegebracht, an den wir vorher wenig gedacht haben: Resilienz!

Auch hier bietet Bioökonomie enormes Potenzial, um zur Widerstandsfähigkeit von Wertschöpfungsketten beizutragen – regional als auch kontinental. Darin sehe ich einen Paradigmenwechsel, an den wer vor einigen Jahren noch nicht gedacht hatten.

Sehr geehrter Herr Dr. Patermann, vielen Dank für das Gespräch!             
Gibt es etwas, dass Sie uns für die Zukunft mitgeben wollen?    
  

Ich beobachte, dass die Medien häufig über Aspekte der Bioökonomie berichten, sei es die Nutzung von Mikroorganismen und Enzymen oder die Entwicklung neuer biobasierter Materialien mit verbesserten Eigenschaften und längerer Lebensdauer.

Allerdings scheinen Politik, Gesellschaft und teilweise auch die Industrie zögerlich zu sein, den Begriff “Bioökonomie” explizit zu verwenden. Hier wünsche ich mir mehr Mut, damit das, was zur Bioökonomie gehört, auch als solche bezeichnet wird.


Das Projekt INNOBIOVC, bei dem der Chemie-Cluster Bayern GmbH seit April 2023 Partner ist, zielt darauf ab, nachhaltige Investitionen in die Kreislaufwirtschaft im Alpenraum zu fördern. Die Bioökonomie, die Lebensmittel, Textilien und Energie liefert, soll durch den Aufbau internationaler zirkulärer Wertschöpfungsketten gestärkt werden. Das Projekt wird innovative Lösungen entwickeln, um Finanzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen und die besten Kooperationspartner zu identifizieren. Gleichzeitig wird es die Nachhaltigkeitsgewinne von Kreislaufprodukten messen. Ziel ist es, ein lebendiges Ökosystem zu schaffen, in dem Unternehmen erfolgreich arbeiten und zur Nachhaltigkeit im Alpenraum beitragen können. Das Projekt umfasst Partner aus mehreren europäischen Ländern, darunter Deutschland, Österreich, Italien und Slowenien.


Dr. Christian Patermann gilt als Schlüsselfigur in der Entwicklung der Bioökonomie in Europa. 1971 trat der promovierte Jurist in den öffentlichen Dienst ein und arbeitete bis 1996 in verschiedenen Funktionen im Themenbereich Forschung und Entwicklung, darunter als Pressesprecher und Leiter des Leitungsstabes des Bundesforschungsministers Heinz Riesenhuber. Von 1996 bis 2007 leitete Dr. Patermann die Direktion Forschung der Europäischen Kommission und war federführend bei der Konzeption der “Knowledge-based Bioeconomy (KBBE)”, die erstmals 2005 von der Kommission formuliert wurde. Anschließend beriet er von 2007 bis 2014 die nordrhein-westfälische Landesregierung im Bereich der Bioökonomie und war von 2009 bis 2012 Mitglied des ersten deutschen Bioökonomierats.