Hot Seat: Martin Rahmel

Datum: 10 Mai, 2023

Herr Rahmel – sie als Leiter der Chemical Invention Factory – erklären sie uns kurz, was hat es damit auf sich?

Als Geschäftsführer der „Chemical Invention Factory | John Warner Center for Startups in Green Chemistry“ — oder kurz CIF — habe ich seit Ende 2020 die wundervolle Verantwortung übernommen, den Grundgedanken der CIF zum Leben zu erwecken und weiterzuentwickeln. Aber was wollen wir eigentlich? Nun, die Mission der CIF ist es, Nachhaltigkeitswirkung von Grüner Chemie zum Wohle unseres Planeten zu entfalten, indem wir die Überführung universitärerer Forschungsergebnisse unserer Disziplin in die Anwendung fördern. Aufbauend auf den Erfahrungen des INKULAB, den ich ebenfalls verantworte, wurde im Jahr 2017 aus dem Berliner Exzellenzcluster Unifying Systems in Catalysis (UniSysCat) das Ziel formuliert, wissenschaftsbasierte Ausgründungen im Bereich der Grünen Chemie zu unterstützen. Wie Ihre Leser sicherlich gut nachvollziehen können braucht man für nachhaltige Materialinnovationen in der Chemie zusätzlich zu den üblichen Erfolgsfaktoren jedoch ein weiteres, sehr kostspieliges Spezifikum: Infrastruktur in Form von Laboren und Analytik. Auch Dank der IHK Berlin haben wird mit dem INKULAB bereits heute schon über 75m² ausschließlich dem Transfer gewidmete Laborflächen für bis zu vier Vorgründungsteams. Mit der CIF wird ab 2026 ein neues Gebäude bezugsfertig sein, in dem auf 1.000m² Nutzfläche eine vollausgestattete Infrastruktur für 12 Teams zur Verfügung stehen wird. Über € 20 Mio. investieren die TU Berlin gemeinsam mit dem Berliner Senat in diese substantielle Kapazitätserweiterung. Dabei basiert das regionale Engagement auf dem Wissen, dass die „Chemiewende“ — das enorme Transformationsvorhaben unserer Industrie — wissenschaftsbasierte Ausgründungen als wichtigen Innovationspfeiler benötigt und dass Berlin hierfür der ideale Ort ist. Denn als führende Startup-Metropole Europas und als herausragender Chemie-Forschungsstandort kommen in dieser Stadt Menschen zusammen, die die Themen Nachhaltigkeit, Veränderung und Innovation jeden Tag fordern und vorleben. Jede(r) der schonmal Berlin erlebt hat, weiß wovon ich spreche.

Zusätzlich zur CIF haben Sie erfolgreich ein BMBF gefördertes Projekt – GreenCHEM – in Höhe von € 10 Mio. eingeworben. Wie konnten Sie sich mit ihrem Konzept gegen andere durchsetzen? Welche Ziele hat dieses Projekt und wie ergeben sich Synergien mit der CIF?

GreenCHEM ist die logische Weiterentwicklung der CIF und verfolgt die gleiche Mission, nur denken und handeln wir größer und im Verbund! „Wir“, das ist ein Konsortium von insgesamt 29 Partnern, welches von den drei Berliner Universitäten (FU, HU und TU) und zwei Chemie-Unternehmen (Covestro AG und BERLIN-CHEMIE AG) initiiert wurde. Neben der Mission ist das Selbstverständnis der Partner, dass wir im Verbund leichter eine Kritische Masse erzeugen und gleichzeitig unsere Infrastruktur komplementär zusammenführen können. Denn die drei Universtäten vereinen nicht nur ca. 10.000 Studierende der diversen chemischen Studiengänge sowie ca. 800 Doktorand*innen. Darüber hinaus verfügt z.B. die HU mit IRIS über die modernsten Labore für Halbleitermaterialien, die TU stellt mit der CIF Infrastruktur für Versuche bis 1 Liter Reaktionsvolumen zur Verfügung, während die FU mit ihrem Scale-up Lab Synthesen bis zu 10 Liter ermöglicht. Im Verbund sind wir also nicht nur größer, sondern decken gemeinsam die notwendige Infrastruktur von der Idee (TRL 1) bis zum Pilotmaßstab (TRL 6) ab. Ein absolutes Novum, und das dazugehörige Know-how habe ich dabei noch gar nicht erwähnt! Hieran kann man gut die gemeinsame Vision erkennen, die Hauptstadtregion zum Innovationsökosystem für Grüne Chemie mit internationaler Strahlkraft zu entwickeln. In Berlin werden zukünftig alle Stakeholder zusammenkommen, um Anwendungen mit Nachhaltigkeitswirkung in den Markt zu transferieren und um neue Forschung dort zu initiieren, wo die größten Nachhaltigkeitsherausforderungen liegen. Im letzten Jahr haben wir hierfür die € 10 Mio. Förderzusage vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Förderprogramms „T!Raum“ erhalten und fangen in diesem Jahr an, die Grundlagen zu schaffen inkl. des Aufbaues eines ca. 12-köpfigen Teams.

Ist das Konzept eine Blaupause für verschiedene Regionen unterschiedlicher thematischer Ausrichtung? Was wäre Ihre Vision? Was fehlt Ihnen zusätzlich zu bisherigen Konzepten Ansätzen, Förderungen?

Zuerst müssen wir anerkennen, dass es kein Patentrezept für effektiven Transfer von Forschungsergebnissen gibt, welches für alle Wissenschaftsdisziplinen und Industrien gleichermaßen funktioniert. Die spezifischen Besonderheiten der Chemie — wie z.B. Kapitalintensität, Verbundeffekte, Produktentwicklungszyklen, Regulatorik, Forschungsintensität, Disruptionspotential — sind ja einer der zentralen Gründe, die zur Gründung von CIF und GreenCHEM geführt haben. Gleichzeitig gibt es natürlich gewisse Themen, die fachunspezifisch funktionieren, so dass einer der Erfolgsfaktoren für wirkungsvollen Transfer das Ausbalancieren zwischen Breite und Tiefe ist. Genau das gehen wir im Berliner Universitätsverbund an, mit Science & Startups in der Breite und GreenCHEM in der chemie-spezifischen Tiefe. Schließlich wollen wir dazu beitragen, dass sich die Startup-Hauptstadt weiterentwickelt und dass sich vermehrt materielle Innovationen zu den digitalen hinzugesellen. Denn die menschengemachten Probleme unseres Planeten brauchen auch Chemie-Startups, die mit den Überzeugungen ihrer Gründerinnen, ihrem Speed und ihrem Drive nachhaltige Materialien in den Markt einführen. Genau hier sehe ich auch spezifisch für die Chemie Verbesserungspotential. So ist die Offenheit gegenüber dem Thema Ausgründungen trotz aller Verbesserungen der letzten 10 Jahre weder in der Wissenschaft und Industrie noch in der Politik auf einem Niveau angekommen, das die Wichtigkeit von Innovationen angemessen reflektiert. Immerhin sprechen wir über die Transformation der kompletten Ressourcenbasis des drittgrößten Industriezweigs Deutschlands! Hier sollten uns die aktuellen Studienergebnisse von Prof. Haubold alarmieren, nach denen deutsche Chemikerinnen ein um 50% reduziertes Gründungsgeschehen zeigen. Entsprechend wünsche ich mir für die Zukunft des Industriestandortes Deutschland und für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft eine Bundesweite Initiative, die die regionalen Aktivitäten in Bayern, Berlin und Nordrhein-Westphalen und anderen Standorten dabei unterstützt, einerseits das Potential der regionalen Chemie-Initiativen zu vervielfältigen und andererseits die Ausgestaltung von chemie-spezifischen Förderprogrammen zu erwirken. In meiner Utopie koordinieren wir hierüber sogar heterogen aufgestellte Ökosysteme und Infrastrukturen, um Gründer*innen in Deutschland zukünftig die besten Voraussetzungen auf ihrem Weg zu geben. Bis dahin setzen wir unsere Mission zumindest in Berlin mit GreenCHEM um, und evtl. dient unsere Art der Zusammenarbeit ja sogar als Blaupause für nationale Bestrebungen im Bereich Chemie. Denn die Transformation der Chemieindustrie in eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft braucht Kollaboration und wissenschaftsbasierte Ausgründungen.


Martin Rahmel ist Diplomwirtschaftsingenieur mit Abschluss von der TU Berlin und hat vor seiner Rolle als Geschäftsführer bei CIF als Co-Founder der DexLeChem GmbH zuerst ein globales Vertriebsnetzwerk aufgebaut und war dann ab 2018 als Managing Director tätig.